Kirchner, Ernst Ludwig (Aschaffenburg 1880 - 1938 Frauenkirch-Wildboden bei Davos)
Liegender weiblicher Akt auf dem Sofa, mit Dekorationswandbehang im Hintergrund.
Bleistiftzeichnung auf Velin, verso mit dem Basler Nachlassstempel (Lugt 1570b mit der handschriftlichen Beschriftung "K2696" in Bleistift sowie "B Dre/Bg 110" in Tinte), um 1910. 27,5 : 33,5 cm.
Einrisse und kleinere Fehlstellen am linken Rand sorgfältig restauriert, an den beiden rechten Ecken kleinere Altersspuren, verso verschiedene Montierungsreste, insgesamt von schöner Erhaltung.
Provenienz: Privatsammlung Schweiz.
Ausstellungen: "Expressionismus in Deutschland und Frankreich. Von Matisse zum Blauen Reiter." Kunsthaus Zürich 2014. Katalognummer 58 (mit Abbildung).
Die Begegnung mit dem Werk von Henri Matisse war für die Brücke-Künstler von großer Bedeutung. Kirchner begegnete ihnen in der Winterausstellung der Berliner Secession 1908/09, wo Druckgraphik und Zeichnungen des Künstlers ausgestellt waren. Auch die aufgrund starker Proteste frühzeitig beendete Matisse-Ausstellung bei Cassirer, die u. a. 30 Gemälde zeigte, soll Kirchner besucht haben. Besonders die Zeichnungen von Matisse erwiesen sich für Kirchner als inspirierend, die "Energie der Linie" (Magdalena Moeller), die Kontur, die Spannung erzeugt, findet sich besonders eindrucksvoll in vorliegendem Blatt wieder. Der Verzicht auf Modellierung unterstreicht die Vereinfachung und die Zweidimensionalität. Dabei ist der Akt eines der Hauptsujets in Kirchners Schaffen jener Dresdner Jahre. Er steht für die "lebensbejahende, unbeschwerte Kunst, ein deutsches pendant zum Fauvismus; eine Kunst, die Freude am Dasein ausstrahlt." (Magdalena Moeller).
Ein Interieur mit Wandteppich gehört seit dem französischen Orientalismus im 19. Jahrhundert zum Motivrepertoire der Maler. Die Zeichnung zeigt eine Situation in Kirchners Dresdner Atelier in der Berliner Str. 80, in das er Ende Oktober 1909 gezogen war. In diesem Jahr tritt die Darstellung eines Sitz- oder Liegemöbels in den Bildern der Brücke-Künstler auffallend häufig auf. Kirchner besaß eine Liege, die er mit verschiedenen Decken belegte und die vor einer Wand stand, die mal mit einem Spiegel, mal mit Bildern oder wie hier mit einem Wandbehang dekoriert war. Diverse Wandteppiche tauchen in zahlreichen Zeichnungen seit 1909 auf (siehe: Hanna Strzoda, Die Ateliers Ernst Ludiwg Kirchners. Eine Studie zur Rezeption >primitiver< europäischer und aussereuropäischer Kulturen. Petersberg 2006. S. 48 ff). Eine Tuschfederzeichnung eines liegenden Aktes vor dem gleichen Wandbehang - vermutlich in Applikationstechnik - aus dem Jahr 1910/11 in ähnlicher Größe ist bei Strzoda abgebildet (Abb. 134, S. 109; Privatbesitz) "Dabei handelt es sich um ein vermutlich annähernd quadratisches Tuch, dessen abstraktes Mittelornament aus konkaven Kreisegmenten zusammengesetzt ist. Die Schnittstellen der Bögen bilden nach außen Spitzen, denen palmenartige Pflanzen entwachsen. Um dieses zentrale Gebilde herum galoppieren gegen den Uhrzeigersinn mehrere Gazellen." (Strzoda S. 109). Nichtzuletzt die Begegnung mit außereuropäischer Kunst (ab 1910) und mit den Bildern Gauguins in der Dresdner Galerie Arnold gaben wichtige Impulse für Kirchners primitivistische Ateliereinrichtungen.
Bei der Dargestellten handelt es sich höchstwahrscheinlich um Doris Große, genannt "Dodo", mit der Kirchner von 1909 bis 1911 liiert war und die ihm zu unzähligen Werken inspirierte. Sie ging nicht mit ihm, als Kirchner im November 1911 nach Berlin zog und sie sahen auch nie wieder. Dennoch konnte er die intensive Beziehung zu ihr nicht vergessen.
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